Florian Lutz, Regisseur

Nocturno

von Georg Friedrich Haas

Kontakt
Biografie

2014
Tannhäuser
Theater Lübeck
Liebeswahn
Händelfestspiele Halle
Médée
Theater Bielefeld

2013
Nocturno
Theater Bonn, Bundeskunsthalle
Die Dummheit
Theater Regensburg

2012
Norma
Theater Bonn
NaturNotizen
Frankfurt LAB

2011
Così fan tutte
Anhaltisches Theater Dessau
Hoffmanns Erzählungen
HAU1 Berlin

2010
Carmen
Theater Bonn
playZero
Festspielhaus St. Pölten
Lucia di Lammermoor
Staatstheater Braunschweig

2009
Die arabische Nacht
Oper Halle
Des Landes verwiesen
Theater Bonn
Helges Leben
Theater Bielefeld

2008
Lohengrin
Bühnen der Stadt Gera

2007
Strangers
HAU 1 Berlin

2006
Orfeo ed Euridice
Bühnen der Stadt Gera

2005
Gelegenheit macht Diebe
Saalbau Neukölln Berlin
Die gelbe Prinzessin
Neuköllner Oper Berlin

2003
Die kahle Sängerin
Theaterhaus Köln

Premiere am 23. März 2013 am Theater Bonn in der Bundeskunsthalle
Musikalische Leitung: Christopher Sprenger
Ausstattung: Christoph Ernst
Fotos
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Neue Musikzeitschrift (NMZ), Georg Beck, 26.03.2013
„Ein heiteres Ende schreiben ohne Sentimentalität – soviel hatte sich Georg Friedrich Haas vorgenommen wie er gut gelaunt im Vorfeld der „Bonn Chance“-Premiere seiner jüngsten Musiktheaterarbeit „Nocturno“ mitteilte. In dem Maß wie Musik, Text, Szene glücklich zusammenwirken sollten, realisierte sich am Ende auch das erhoffte Ende in Heiterkeit.
Wenn auch nur für einen Moment. Das Suchen einer Frau, der Sappho, nach erfüllender Liebe ließ auf der Zielgeraden der Forum-Bühne, berührendes Schlussbild, auch die realen Paare zueinander finden. Sie und Sie, Sie und Er Rücken an Rücken. In leichter Schräglage, weil wahre Stabilität, so die Botschaft, erst die gelingende Geschlechterspannung stiftet. Das war er dann, der von Regisseur Florian Lutz vermittelte Augenblick der sentimentalitätsfreien Erfüllung, den sich Haas vorgestellt hatte und der im modernen (Musik)Theater so seine Seltenheit hat. Andererseits, wer wollte es den Komponisten, den Regisseuren verdenken, gibt der Blick auf den Zustand der Welt ja in der Tat wenig Anlass, um ausgerechnet auf der Bühne sich finden, sich ver- und aussöhnen zu lassen, was draußen partout nicht zusammengehen will.

Selbstredend standen die Dinge auch mit NOCTURNO, von Haas aus vorhandenem Material teils neu arrangiert, teils neu komponiert, nicht plötzlich Kopf. Im Gegenteil hatte sich Florian Lutz von seinem Ausstatter Christoph Ernst ausbedungen, das Forum der Bundeskunsthalle haargenau jenem Erscheinungsbild anzugleichen, das sich weithin als unsere „Gegenwart“ etabliert hat. Was darin „Innen“, was „Außen“ ist, ist ja desto mehr unklar geworden je mehr die Omnipräsenz der Echtzeitbilder aus allen Winkeln der Welt in alle Winkel des vorgeblich „Privaten“ hineinfuchtelt.

Beklemmende Realität
Also schaute es auch so aus, das NOCTURNO-Spielfeld. Im Kern ein in Sitz-, Nass- und Esszelle aufgeschnittenes Wohnumfeld, dessen Wände großflächig mit Motiven aus den Banalitäten- und Schreckenskammern moderner Fotoarchive tapeziert sind. Verschleierte Bräute, Explosionen, hingemähte Leichen und dazu reichlich Pornografika auf Stellwände montiert. Davor, über Treppen erreichbar, eine Glamour-Tafel, die während der Vorführung mit Tellergerichten serviert wird. Dazwischen spießige Fernsehsitzecken wie im richtigen Leben. Wie überhaupt die Monitore sich in dieses veristische Glotzer-Tableau eingenistet haben wie die Krebserreger in den Blutbahnen. Überall stehen sie herum und kreieren den Peep-Show-Voyeur. Das sind wir, sagt die Regie. Für so etwas wie einen abgetrennten Zuschauerbereich ist kein Platz mehr, weswegen das verehrte Publikum, das sich in diesem von grellem Neonlicht ausgeleuchteten Labyrinth gleichmäßig zwischen Musikern, Statisten und Darstellern verteilte, selber zum Teil des Geschehens werden musste.

Ein sardonischer Kunstgriff. Das Ereignishafte, das Eventmäßige moderner Musiktheaterregie in beklemmender Weise Realität. Da sitzen wir und werden von den beiden Akteuren, den vor allem auch schauspielerisch überzeugenden Sängern (fabelhaft die Sopranistin Ruth Weber, glänzend der Bariton David Pichlmaier) immer wieder ermuntert, dem bereitstehenden Eisschrank alkoholische Getränke zu entnehmen. Ein Angebot, dem manche im Publikum nicht widerstehen können.
Währenddessen sind die Darsteller, die sich im Vortrag ihrer gesungenen Monologe abwechseln, schon wieder an anderer Stelle unterwegs im Labyrinth der Gegenwart. Ein weiterer Regiekniff macht, dass wir im Bilde bleiben. Beharrlich begleitet ein Team aus Kameramann und Kabelträger die mäandernden Gänge der Sänger durch die Statisterie, nur um die NOCTURNO-Bilder live auf die Schirme zu spielen. Schein und Sein auf doppelter Ebene. Die bildgebenden Verfahren, notwendig für die Orientierung in der szenischen Unübersichtlichkeit, hier zugleich Momente analytischer Musiktheaterarbeit.

Florian Lutz, dessen Bonner Inszenierung von Juan Allende-Blins DES LANDESVERWIESEN noch gut in Erinnerung ist, hatte sich mit diesem NOCTURNO-Coup zurecht den einhelligen Schlussbeifall verdient."

Aachener Nachrichten, Pedro Obiera, 24.03.2013
„Gemildert wurde der Abschiedsschmerz durch die Urauff†hrung der neuen Oper von Georg Friedrich Haas, Nocturno, in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle. ...
Man befindet sich in einer Art überdimensionaler Puppenstube mit funktionsfähiger Küche, Speise- und Schlafzimmer und allem, was zu einer gemütlichen häuslichen Umgebung gehört. Dafür hat Haas zwei frühere Werke ineinander verzahnt, die die gestörte Beziehung eines Paares erkennbar werden lassen. ...
Eine hoch emotionale Musik, die einen spannenden Kontrapunkt zur Inszenierung von Florian Lutz bildet.
Die erotische Komponente deuten lediglich ein paar Bilder an, die die Bühne umrahmen. Im Mittelpunkt stehen die häuslichen Räumlichkeiten und geben den Blick auf eine Frau frei, die offensichtlich ein recht bescheidenes Eheglück sucht und sich bemüht, durch Kochen die Menschen für sich zu erwärmen und im Bett einsam vor sich hin trauert. Dem steht der Mann mit seinen recht starren Haiku-Repetitionen gegenüber. Das Publikum kann sich derweil frei durch die Räumlichkeiten bewegen, an dem Esstisch Platz nehmen und sich auch an den Kühlschränken bedienen.

Grandiose Intensität
Ruth Weber gestaltete den kräftezehrenden Monolog hoch konzentriert mit grandioser Intensität und großem Einfühlungsvermögen. Nicht minder überzeugend der Bariton David Pichlmaier sowie der Damenchor der Bonner Oper und das „Ensemble „musikFabrik“ unter Leitung von Christopher Sprenger.

Ein würdiger Abschluss einer verdienstvollen Reihe, die mit Recht das Markenzeichen „experimentell“ tragen durfte."

Kölner Stadtanzeiger, Rainer Nonnenmann, 26.03.2013
„Das Inszenierungsteam ... macht das Beste aus der Tatsache, dass Nocturno des vielbeschäftigten österreichischen Komponisten kein einheitliches Musiktheaterwerk ist."

Bonner Generalanzeiger, Elisabeth Einecke-Klövekorn, 25.03.2013
„... Es ist kein Mitmachtheater, obwohl die Zuschauer herumwandern und sich selbst ihre Perspektiven suchen können in der großen, neongrell erleuchteten Installation im Forum der Bundeskunsthalle. Allerhand plüschige Sitzgruppen und Mobiliar aus dem Fundus gibt es dort neben japanischen Pornofotos, Feuerzauber an Küchenwänden sowie Showtreppen zwischen blutigem Siedepunkt und weißem Festmahl-Ritual."Nocturno" widmet sich den Nachtseiten des Lebens. Das gleichnamige, titelgebende Stück für Frauenchor ist als Ouvertüre neu komponiert und verlangt absolute Dunkelheit. Dafür wird das Publikum mit Augenmasken versorgt und zur Konzentration auf das körperliche Hören veranlasst. Die Stimmen der achtzehn Damen des Bonner Opernchors, einstudiert von Sibylle Wagner, entwickeln einen unsichtbaren Klang-Bildraum. Poetische Sätze aus Novalis? romantischen "Hymnen an die Nacht" und Georg Trakls düster-symbolistischer "Romanze zur Nacht" überlagern sich geheimnisvoll. ...

Langer, überzeugter Premierenbeifall!"

Die deutsche Bühne, 04/13, Detlef Brandenburg
„Diesmal, zu „Nocturno“ in der Bundeskunsthalle in Bonn, sind wir ausnahmsweise nicht bei der Premiere gewesen, sondern bei der Derniere. Denn dies war eine letzte Vorstellung in gleich zweierlei Hinsicht. Zum einen wurde die Produktion „Nocturno“ letztmalig aufgeführt. Es ist ein Abend mit Kompositionen des zur Zeit sehr angesagten Grazer Neue-Musik-Sensibilisten Georg Friedrich Haas – Kompositionen, die eine szenische Lösung nicht unbedingt herausfordern, zu denen der Regisseur Florian Lutz aber dennoch eine solche gefunden hat, die sogar weit mehr ist als das: Nicht nur eine Lösung, sondern wirklich ein Geniestreich, der dem Namen der Reihe Bonn Chance! – Experimentelles Musiktheater der Bonner Oper noch einmal alle Ehre macht. ...

Haas hat nur eines von drei Stücken extra für diese Produktion komponiert: das titelgebende „Nocturno“, ein Fast-a-cappella-Chorsatz für Frauenstimmen und Akkordeon zu Texten von Novalis und Georg Trakl, die aber nahezu unverständlich bleiben und lediglich das Material für extreme Lautverfremdungen liefern. Über dieser Partitur steht die seltsame Anweisung: Im Dunkeln zu spielen/zu singen. Und dafür liefert das Werk plausible Gründe. Denn der Satz aus komplex und feinteilig ineinander verzahnten Stimmen von faszinierender gestischer Intensität fordert Ohr und Geist zu höchster Konzentration heraus – und belohnt diese Konzentration mit einem intensiven Abenteuer des Hörens. Die anderen beiden Teile, „Haiku“ für Bariton und zehn Instrumente und „Atthis“ für Sopran und acht Instrumente, hat Haas ursprünglich als Konzertmusik komponiert („Haiku“ wurde bereits 2005 in Witten, „Atthis“ 2010 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt) und nun in alternierenden Abschnitten ineinandergearbeitet. Dadurch ergibt sich quasi ein Dialog zwischen dem Bariton, der den Text eines klassischen japanischen Haiku von Yosa Buson singt, und der um ihre Gefährtin klagenden griechischen Dichterin Sappho.

Haas hat in beide Kompositionen viel Bildung und viel Empfindungs-Empathie investiert. Eine dramatisch zwingende Form oder auch nur einen thematischen Beziehungsreichtum entwickeln sie in der neuen Kombination aber allenfalls auf einer sehr allgemeinen Ebene. Nach dem „Nocturno“ klagt der Bariton über die Kürze der Nacht, es folgt der Nachtgesang einer Verlassenen. Nun ja… Insofern war es nicht nur vertretbar, sondern ein wirklicher Coup, dass Florian Lutz die Musik lediglich als Material für seine extreme szenische Überformung nimmt. Ganz nah am Werk bleibt er nur in „Nocturno“: Hier werden die Zuschauer angehalten, sich Schlafmasken aufzusetzen. Damit ausgestattet, werden sie in den Aufführungsraum geführt, versinken stehend in tiefster Dunkelheit, und wer sich auf diese Situation einlässt, wird mit einem Hörerlebnis von beispielloser Intensität belohnt. Die 15 Minuten vergehen wie im Fluge. Als der erste Orchesterschlag des ersten „Haiku“-Teils die Dunkelheit beendet und man geblendet in die neonkalte Helligkeit starrt, glaubt man kaum, dass die Zeit schon vorbei ist. In der Tat: „Die Nacht so kurz – oh!“. Und der Tag so grell.

Jetzt aber sehen sich die Zuschauer einem seltsamen Interieur des Ausstatters Christoph Ernst gegenüber: Auf einer Empore ist eine kleine, popbunt ausgemalte Mehrzimmerwohnung mit Küche, Schlafzimmer, Toilette und Wohnzimmer aufgeschlagen, gegenüber schimmert auf einem Podest eine vornehme Tafel in blendendem Weiß, Stellwände mit pornographischen Fotos begrenzen den Raum. Die Zuschauer werden animiert, das Interieur zu bevölkern, Teile des Geschehens werden per Livekamera auf Monitore übertragen, und alsbald wird in der Küche gemeinsam Essen zubereitet, an der Tafel wird getafelt, man kann sich an den Kühlschränken mit Getränken bedienen – und inmitten der teils flanierenden, teils mitagierenden, teils auf Stufen oder Stühlen sitzenden Zuschauer klagt die Sappho-Sopranistin ihr Leid, der Bariton gewinnt der unermüdlichen Wiederholung seiner drei (hier gut verständlichen) Textzeilen einigen komödiantischen Witz ab. Das Seriöse trifft auf das Buffoneske, und so entsteht durchaus eine gewisse Binnenspannung zwischen beiden Werken: Sappho scheint es darauf anzulegen, als Dame des Hauses ihre Besucher mit in ihr Leid hineinzuziehen, während der Bariton den humorvollen Hausherrn gibt.

Doch „der klügste Hintersinn dieses Abends liegt in der Zuschauer-Situation selbst: Nachdem Florian Lutz seine Besucher zunächst zur tiefsten Versenkung in die Komplikationen einer schon sehr Alltags-abgewandten Musik angehalten hatte, konfrontiert er unmittelbar darauf eine kaum minder komplexe Musik mit einer ziemlich banalen Alltagssituation. Er stellt damit sehr gezielt die Frage nach der Lebenshaltigkeit dieser Musik: Besteht sie in dieser Situation oder scheitert sie an ihrer eigenen Esoterik? Und das Verwunderliche ist: Sie scheitert nicht. Auf rätselhafte Weise setzt sich ihre Faszinationskraft gegen alle Verführung zur Geschäftigkeit drumherum durch, man sieht es den Zuschauern an, dass sie immer wieder gefangengenommen werden, dass sie der Klang mehr fasziniert als das Bier aus dem Kühlschrank oder der Salat in der Schüssel. Insofern beschert uns diese Inszenierung auf eine schon sehr verblüffende Weise einen Abend über die Kraft dieser Musik.Das hätte freilich nie funktioniert ohne die nervenstarken, einfühlsamen Musiker: die enorm expressive, im Umgang mit den Zuschauern unglaublich selbstsichere Sopranistin Ruth Weber und der charmant komische Bariton David Pichlmaier; der von Sibylle Wagner vorzüglich präparierte Damenchor; und die ungemein musikalisch spielenden, auf der „Dachterrasse“ der Wohnung und den Emporen des Auditoriums weiträumig verteilten Instrumentalisten des Ensemble musikFabrik. Der Dirigent Christopher Sprenger behält in dieser komplizierten Raumsituation jederzeit den Überblick und sorgt für eine bemerkenswert gute Koordination. Und auch die Statisten, die die Zuschauer fast unmerklich unterwandern und sanft manipulieren, haben einen hohen Anteil an diesem Gelingen."